„Rita, … Rita?!? … Das kann doch jetzt nicht wahr sein!“, Marianne war um Fassung bemüht, als sie mit Ilse im Schlepptau in den Wohnraum gestürmt kam.
„Wo ist Rita hin?“, rief Ilse verzweifelt hinter ihr. Die Tränen schossen ihr in die Augen.
Marianne sah durchs Fenster und glaubte dort, wo einmal die schmale Straße ins Tal gewesen sein musste, im Schneegestöber die Umrisse einer Frau zu sehen. Sie rannte zur Tür und brüllte gegen den Schneesturm: „Rita! … Rita, komm zurück!“
„Das bringt nichts. Die ist weg … was macht die denn für einen Quatsch, alleine da draußen im Schneesturm? Das ist doch Wahnsinn!“
„Marianne, was machen wir denn jetzt? … Rita verirrt sich doch allein draußen. Und dann noch bei Dunkelheit. Wir müssen hinterher!“
„Und uns auch verlaufen oder gleich erfrieren? … Sei doch vernünftig!“
„Aber, irgendwas müssen wir doch …“
„Natürlich werden wir etwas unternehmen, das ist doch klar … hol’ mal dein Handy, Ilseken! Und ich hole meins …“
Kurz darauf trafen Sie wieder im Wohnraum am Kamin zusammen.
„Aber wir haben doch keinen Empfang!“, klagte Ilse.
„Das wollen wir doch mal sehen. Wenn da steht „Nur Notrufe“, sollten wir doch zumindest einen … eben, Notruf absetzen können.“ – Doch nach einigen weiteren Sekunden mussten beide feststellen, dass sie noch nicht mal eine Verbindung zur 112 herstellen konnten.
„Das gibt es doch nicht …“, schimpfte Marianne. „Wir haben doch aber telefoniert, als wir hier hoch gefahren sind, Ilse …“
„Stimmt, Du hast recht! Meine Enkelin hatte mich doch angerufen, weil sie mit Oma sprechen wollte …“
„Genau, und wo war das?“
„Wo? Na ja, ich habe noch mit ihr gesprochen, als wir etwas oberhalb von hier geparkt haben und …“
„Etwas oberhalb, Du sagst es!“, rief Marianne. „Zieh Jacke und Mütze an … wir gehen zum Auto!“
Draußen war es wirklich scheußlich! Die Schneeflocken wirkten im Sturm wie kleine Geschosse, die aus allen Richtungen zu kommen schienen. In Ihren Mänteln mit Schals vor den Gesichtern kämpften sie sich bis zum Auto, dass oberhalb der in einer Mulde stehenden Hütte auf dem letzten Stück Straße geparkt war. Es war komplett eingeschneit, so dass Marianne direkt beschloss, nicht aus dem Auto, sondern von weiter oberhalb die Verbindung herzustellen. Beim dritten Versuch klappte es mit dem Notruf. Es knackte und rauschte und dazu kam noch der Sturm. Ilse drückte die Daumen, dass die Verbindung halten möge, während Marianne ins Handy brüllte: „… ja, Steippenberger-Hütte … nein, uns geht es gut … wir … wir vermissen jemanden … eine Frau, ja, allein unterwegs … von hier aus los … vermutlich ist sie die Straße entlang runter ins Tal … seit wann? Vor einer halben Stunde etwa … nein, Handy hat sie nicht dabei … gut, ja, gut … wir bleiben hier, natürlich. Nein, wir haben sonst keinen Empfang. Gut, Danke! – Ilse, sie schicken die Rettungshundestaffel aus dem Tal die Straße hoch. Hubschrauber ist bei dem Wetter ausgeschlossen, sagen sie … jetzt lass uns schnell wieder rein.“
Drinnen setzten sie sich in den Jacken dicht vor den Kamin und breiteten Decken über sich.
„Hoffentlich schafft sie’s!“, sagte Ilse dann, als ihre Zähne nicht mehr klapperten.
Marianne legte den Arm um sie: „Ach, klar! Mach dir keine Sorgen! Rita ist doch unsere Kämpferin.“
„Aber, was machen wir denn jetzt mit Weihnachten? Wir wollten doch alle drei bei unseren Familien sein …“, Ilse ließ den Kopf hängen. Marianne sagte nichts.
„Schau mal, es hat aufgehört zu schneien.“ Tatsächlich sah man in der Dunkelheit keine Schneeflocken mehr vor den Fenstern. Sie öffneten die Eingangstür: „Die Luft ist milder geworden. Bald fängt es an zu tauen. … der Wind ist milder geworden – vielleicht Föhn.“
„Rita wird es schaffen“, sagte Marianne noch einmal, „komm, wir gehen wieder rein.“
*
Sie mussten eingeschlafen sein. Lautes Klopfen an der Tür ließ sie hochschrecken.
„Hey, ihr in der Hütte!“, rief eine laute Männerstimme.
Marianne fuhr aus dem Schlaf und torkelte zur Tür. „Wer … wer ist denn da?“
„Marianne, ich bin’s doch!“, rief Rita mit zwar heiserer, aber doch fester Stimme.
„Rita!“, rief Ilse aus dem Hintergrund und stürzte an Marianne vorbei, um die Tür zu öffnen.
Da stand sie in ihre goldene Rettungsdecke gewickelt. Umrahmt von Herren und Damen in Rot und einem weißen Lawinensuchhund.
Ilse drückte die Freundin fest an sich. „Du bist eiskalt, komm schnell rein vor den Kamin!“
„Ja, komm Rita!“, Marianne legte ebenfalls den Arm um sie.
„Ich mach dir einen Tee … und für Sie natürlich auch!“, Ilse rannte in die Küche, während Rita und Marianne sich dicht vor den Kamin setzten, in dem noch die letzte Glut brannte.
„Wo … wo haben Sie Rita gefunden?“
„Etwas abseits der Straße, nicht weit von hier“, antwortete der Bergretter mit der lauten Stimme, der geklopft hatte. „Sie hätten sie eigentlich fast noch hören können …“
„Hören? … ach, Rita, Du Arme! Hast Du die ganze Zeit um Hilfe geschrieen?“
„Nein“, antwortete die mit heiserer Stimme, „brauchte ich nicht …“
„An ihrem Kompass ist eine Pfeife für den Notfall“, erklärte der Bergretter. „So haben wir sie recht schnell finden können, nachdem unsere Lissy hier sie gewittert hatte.“ Er streichelte die Hündin.
„Aber, Rita, warum hast Du nicht versucht, hierher zurückzukommen?“, Ilse reichte ihr eine Tasse heißen Tee.
„Ich … ich war vom Weg abgekommen und dann kam eine kleine Lawine …“, begann Rita und nahm einen vorsichtigen Schluck.
„Sie hat großes Glück gehabt“, ergänzte der Bergretter, „es war nur ein kleiner Lawinenabgang. Als wir sie gefunden haben, steckte sie bis zur Hüfte im Schnee.“
„Ich konnte die Beine nicht bewegen, zum Glück fiel mir das mit der Pfeife ein …“
„… und hast Du, ich meine, wie geht es deinen Beinen?“
„Erfrierungen habe ich wohl keine … ich war zum Glück auch nicht so lange draußen unterwegs.“
„Zur Sicherheit sollten Sie sich trotzdem nochmal im Krankenhaus untersuchen lassen … also, sobald die Straße wieder befahrbar ist. Wenn es weiter taut, vielleicht in zwei Tagen.“
*
Später war Ruhe eingekehrt: Das Rettungsteam hatte Ritas Arme und Beine nochmals auf Erfrierungen untersucht und war dann abgezogen. Die drei Freundinnen saßen jetzt nebeneinander vor dem Kamin unter der aufgehängten Weihnachtsdeko. Alle drei waren erleichtert und sehr müde.
Rita schluckte und traute sich dann zu sagen: „Es tut mir so leid, dass ich geschimpft habe … und ihr euch meinetwegen solche Sorgen machen musstet … ich, ich bin halt durchgedreht, weil ich Angst hatte, dass wir Weihnachten hier oben verbringen müssen … und das fühlte sich einfach nicht richtig an …“
„Ach Rita, Hauptsache wir sind zusammen, oder?“, sagte Ilse leise, „was macht es da schon, ob wir an Weihnachten für zwei Tage auf einer Hütte eingeschneit sind. Bestimmt können wir übermorgen schon nach Hause …“
„Das sehe ich genauso“, sagte Marianne, „denn, wie sagt man noch mal? – Weihnachten, das ist keine Zeit und kein Ort, es ist das Licht, das wir im Herzen tragen.“
– E N D E –


